Steinbach-Hallenbach. Wie Jugendlichen – dank der Schule und der Strahlemann-Stiftung – in Thüringen Einblicke in die Arbeitswelt erleichtert werden.

Sebastian Haak

Damit junge Menschen einen Ausbildungsberuf wählen, der zu ihnen passt, gibt es kaum etwas Wichtigeres als eine gute Berufsorientierung. An einer Regelschule zeigt sich, wie wichtig dafür Kontinuität und kleine Schülergruppen sind – und Geduld.

Es dauert nur ein paar Sekunden, dann hat Nadine Kimmel zumindest einen ersten Eindruck davon, wie es den drei jungen Männern geht, die da vor ihr sitzen. Mit routinierten Handgriffe hat die Krankenschwester, die bei einem Pflegedienst arbeitet, ihren Puls gemessen. Wie schnell es geht, wenn sie das tut, davon sind die Neuntklässler sichtlich beeindruckt. Alle lächeln breit.

Umso mehr fällt bei dieser Begegnung, die kurz vor den Ferien stattfand, auf, wie nervös die Jugendlichen sind, als sie kurze Zeit später selbst mit der Manschette hantieren dürfen, die dabei hilft, diese wichtige Vitalfunktion zu bestimmen. Das Lächeln ist einem angestrengten Gesichtsausdruck gewichen. „Hast Du den Punkt?“, fragt Kimmel einen der Schüler, als der auf dem Arm seines Mitschülers sucht.

Die „Talent Company“ steht regelmäßig im Stundenplan

Nicht nur an diesem Tag in einem speziellen Raum zur Berufsorientierung werden an der Regelschule Steinbach-Hallenberg diese jungen Menschen mit all den Fragen konfrontiert, die eine Berufsentscheidung mit sich bringt. Aus ganz verschiedenen Perspektiven müssen sie Antworten darauf finden, was zu ihnen passt. Deshalb erproben sich die Jugendlichen nicht nur im Blutdruckmessen. Sondern zum Beispiel auch im Fleisch würzen. Immerhin könnten diejenigen, für die ein Beruf im Gesundheitswesen nichts ist, doch gute Köche werden. Oder Handwerker. Oder, oder, oder. Deswegen tüfteln einige von ihnen in Zweierteams: Ihr Ziel ist es, aus ungekochten Spagetti und einem Marshmallow einen Turm zu bauen. „Gleich sind 14 Minuten um“, sagt Sven Kettner, der bei einem Werkzeughersteller als Personalleiter arbeitet. Einige von ihnen werden ein bisschen nervöser, fummeln hektischer an ihren Spaghetti und dem Marshmallow herum.

Der Gruppe ganz hinten fällt der halbfertige Turm ein. „Wenn’s hilft, können die Spagetti auch gekürzt oder geteilt werden“, sagt Kettner. Das ist keine bloße Spielerei. Das Konzept hinter dieser Übung: in einer begrenzten Zeit mit begrenzten Ressourcen eine bestimmte Aufgabe lösen. Wie im richtigen Leben also, wo ganz viele Dinge zwar wünschenswert wären, aber die Geld- und Personalkapazitäten begrenzt sind; Letztere inzwischen vielleicht sogar noch mehr als Erstere. Dabei hilft im richtigen Leben oft, was die Schüler hier bei Kettner oder bei Kimmel tun: ausprobieren. Immer wieder. Bis es klappt.

Sechs Mal pro Jahr zwei Stunden

All das ist Teil des Versuchs, die jungen Menschen so gut wie möglich darauf vorzubereiten, dass sie sich bald entscheiden müssen, welchen Beruf sie erlernen wollen. Insgesamt sechs Mal pro Jahr für zwei Stunden absolvieren die 14- und 15-Jährigen an dieser Bildungseinrichtung derartigen Unterricht, der unter dem Schlagwort „Talent Company“ im Stundenplan stehe, sagt Jens Meißner. Er ist der stellvertretende Leiter dieser Regelschule.

Mit der mittlerweile umfänglichen Berufsorientierung reagiere die Schule auf Erfahrungen mit Schülern und Lehrern ebenso wie auf Rückmeldungen aus den Unternehmen in der Region, stellt er fest. Den eigens für die Berufsorientierung bestimmten Raum hat die Schule in Zusammenarbeit mit der Strahlemann-Stiftung eingerichtet, die bislang bundesweit 74 Schulen auf diese Weise unterstützt hat. Neben Arbeitsplätzen, an denen unter anderem Bewerbungsschreiben erarbeitet werden können, gibt es hier auch eine „Job Wall“, an der Unternehmen aus der Region ihre Ausbildungsberufe vorstellen.

In kleinen Gruppen bessere Orientierungsmöglichkeiten

„Die Kinder haben in der siebten, achten oder neunten Klasse oft überhaupt noch keine Idee, was sie nach der Schule machen wollen“, sagt Meißner. Ein Grund dafür sei, dass sie in der Regel zu wenig Kontakt in die Arbeitswelt hätten. Mal eine Schulstunde zur Berufsorientierung hier oder ein Tag der offenen Tür in einem Unternehmen dort sei zu wenig, um ihnen echte Einblicke zu geben. „Wir haben zu wenig Lehrer, um so was leisten zu können“, sagt Meißner. Deshalb funktioniere die „Talent Company“ auch nur deshalb, „weil die Unternehmen uns die Berufsorientierung quasi abnehmen“.

Da es beim Konzept der „Talent Company“ wesentlich darum geht, dass die Mitarbeiter von verschiedenen Unternehmen den Jugendlichen Einblick in die verschiedenen Branche geben, hat sich auch an dieser Schule bewährt, was auch von anderswo zu hören ist: Berufsorientierung ist dann besonders effektiv, wenn sie in kleinen Gruppen stattfindet – und sich die Schüler selbst dafür entscheiden müssen, in welche Branche sie an einem bestimmten Tag eintauchen wollen. So sei die Motivation des Einzelnen höher, als wenn er in der Anonymität einer großen Gruppe untertauchen könne, sagt Marie Burkhardt, die selbst an diese Regelschule gegangen ist und inzwischen für das, in dem sie Unternehmen arbeitet, die „Talent Company“ mitbetreut. Weiterer Nebeneffekt: „Innerhalb dieser kleinen Gruppen bleibt man als Unternehmen immer im Gespräch“, sagt Burkhardt.

Sie hat hinsichtlich der konkreten Berufs- und Ausbildungswünsche von Siebt-, Acht- oder Neuntklässlern diese Erfahrung gemacht: „Es gibt in diesem Alter Schüler, die sehr genau wissen, was sie können und wollen.“ Eine abschließende Vorstellung von ihrem weiteren beruflichen Lebenswege hätten aber „nur wenige“. Umso wichtiger sei es, Schüler in diesem Alter immer wieder zu fragen, was eigentlich ihre Interessen seien, ehe sie im Rahmen von Praktika, von Ferienarbeit oder durch Unternehmensbesuche in Unternehmen ausprobieren könnten, ob sie ihre Interessen zum Beruf machen könnten oder wollten.

Der Entscheidungsweg nimmt mehrere Jahre in Anspruch

„So kristallisiert sich über Jahre hinweg Stück für Stück heraus, in welchem Beruf jemand wahrscheinlich gut ankommen könnte“, sagt Burkhardt. Die Betonung in ihrem Satz liegt auf „über Jahre“. „Berufsorientierung ist ein Prozess, der dauert sehr lange.“

Die drei Schüler, die mit Hilfe von Nadine Kimmel, Blutdruck messen, wissen inzwischen, dass sie recht gesund sind. Einer von ihnen stellt bei einem Mitschüler einen Wert von „120 zu 70“ fest, was so ziemlich dem optimalen Blutdruck in diesem Alter entspricht. „Na da, super“, sagt Kimmel. „Das nächste Mal macht ihr das bitte ganz alleine.“ Selbst wenn der ein oder andere, der hier vor Kimmel sitzt, demnächst nicht alleine mit einer Blutdruck-Manschette hantieren sollte: Auch damit wäre der Berufsorientierung gedient. Denn zu wissen, was jemand nicht kann, ist dafür genau so wichtig wie zu wissen, wo die eigenen Stärken liegen.