Berlin. Russlands Sommeroffensive hat begonnen. Ein Experte erklärt Putins Ziele, ein Exilrusse senkt den Daumen, die USA drängen auf Hilfe.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß, dass der Angriff auf Charkiw nur der Anfang ist: Die russische Sommeroffensive hat begonnen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß, dass der Angriff auf Charkiw nur der Anfang ist: Die russische Sommeroffensive hat begonnen. © DPA Images | Uncredited

Russland hat nach Einschätzung der britischen Denkschule Royal United Services Institute (RUSI) im Ukraine-Krieg eine „Sommeroffensive“ gestartet. RUSI schätzt, dass die Streitmacht von Kremlchef Wladimir Putin auf mittlerweile 510.000 Soldaten angewachsen ist. Sie sei den Streitkräften der Ukraine zahlenmäßig überlegen.

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Die Front in der Ukraine erstreckt sich über fast 1.200 Kilometer. Entlang dieser Linie starteten die Russen kleinere Angriffe, zumeist auf Kompanieebene und nicht etwa in der Stärke von Brigaden oder Divisionen. Für RUSI-Militärexperte Jack Watling sind die Umrisse der Offensive leicht zu erkennen:

  • Vorstoß gegen Charkiw. Die Ukraine soll Truppen entsenden und Reserven mobilisieren, um die Stadt zu verteidigen.
  • Am anderen Ende der Linie, im Süden, erwartet Watling ebenfalls Vorstöße. Die Russen wollten die Bodengewinne der Ukraine aus ihrer Offensive im Jahr 2023 zunichte machen und die Stadt Saporischschja gefährden.
  • Danach wird der Vorstoß im Donbass ausgeweitet. Das Ziel bestehe weniger darin, einen großen Durchbruch zu erzielen, sondern der Ukraine klarzumachen, dass sie den Vormarsch entlang der Front Kilometer für Kilometer nicht aufhalten kann.

Russen haben die Lufthoheit

Die ukrainische Luftverteidigung sei geschwächt. Russland könne mit seinen Drohnen des Typs Orlan-10 „weit und breit über die Frontlinien streifen“. Sie würden routinemäßig sowohl Charkiw als auch Saporischschja anfliegen. Sie können Stellungen mehr oder weniger unbehelligt auskundschaften und gezielt angreifen, zuletzt zum Beispiel zwei ukrainische Hubschrauber, während sie gerade aufgetankt wurden.

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Das ukrainische Militär stehe vor einer harten Entscheidung. Es kann weiterhin Luftverteidigungsanlagen rund um die kritischen Infrastrukturen aufstellen oder sie an die Front verlagern und damit Kompromisse beim Schutz machen, beispielsweise von Kraftwerken. Die Ukraine könne Putins Sommeroffensive nur dann abschwächen, wenn die Partner sogenannte Schlüsselwaffen lieferten: Artillerie, Luftverteidigung und elektronische Kriegsführung.

USA: Nächste Wochen entscheidend

Das hat längst auch die Nato-Führungsmacht USA erkannt. Auf einem virtuellen Gipfeltreffen des sogenannten Ramstein-Formats, dem fast 50 Länder angehören, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Montag, die nächsten Wochen und Monate würden entscheidend sein.

Ruft zur Unterstützung der Ukraine auf: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin.
Ruft zur Unterstützung der Ukraine auf: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. © Getty Images via AFP | Kevin Dietsch

In seiner Eröffnungsrede, die auf X übertragen wurde, betonte Austin, die Luftverteidigung stehe „ganz oben“ auf der Tagesordnung. Die Verteidigung in der Region Charkiw bezeichnet er als einen „harten und gefährlichen Kampf“.

Die USA hätten „bereits viele der höchst priorisierten Anforderungen geliefert.“ Mehr Hilfe sei unterwegs. Nachdrücklich rief er die Partner zur Unterstützung der Ukraine auf.

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Mit seinem Appell stößt Austin in der Bundeswehr auf offene Ohren. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat nach einem Medienbericht Sofort-Waffenhilfe für Kiew von fast vier Milliarden Euro gefordert.

RUSI warnt, „die Aussichten in der Ukraine sind düster.“ Die Ukraine brauche Hilfe, insbesondere Munition, für eine Atempause, die sie dringend brauche, um danach die Initiative zurückzugewinnen.

„Bis Ende des Jahres verliert die Ukraine Charkiw“

In einem Essay machte der australische Militärexperte Mick Ryan zwei große Versäumnisse in den letzten sechs Monaten aus: das Zögern der Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, mehr Soldaten zu rekrutieren, und die wochenlange Blockade der Militärhilfe für die Ukraine im US-Kongress. Selenskyj weiß um den Ernst der Lage. Er bemerkte zuletzt, die Offensive auf Charkiw sei „nur der Anfang“.

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Noch düsterer äußerte sich der frühere russische Olmilliardär und Regimekritiker Michail Chodorkowski, der im Exil lebt, in einer Diskussion. Eine Rede auf einem Russland-Kongress in Berlin leitete er dieser Tage mit den Worten ein, „die ukrainischen Freunde mögen sich jetzt bitte kurz die Ohren zuhalten“. Chodorkowski: „Bis Ende des Jahres verliert die Ukraine Charkiw, bis Mitte 2025 Odessa.“ Mitte 2026 werde sie einen Partisanenkrieg führen. Es sei denn, der Westen unterstütze sie massiv.

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Der russische Regimekritiker Michail Chodorkowski sieht die Ukraine auf der Verliererstrasse.
Der russische Regimekritiker Michail Chodorkowski sieht die Ukraine auf der Verliererstrasse. © DPA Images | Bernd von Jutrczenka