Berlin. Junge Menschen der Generation Z geben an, unter Speisekartenangst zu leiden. Experten erklären, warum das Phänomen problematisch ist.

Den meisten Menschen läuft beim Blick auf die Speisekarte das Wasser im Mund zusammen. Einigen jungen Menschen hingegen, die der Gen Z angehören, rutscht allein bei der bloßen Vorstellung, sich für ein Gericht im Restaurant entscheiden zu müssen, das Herz in die Hose. Das klingt erst einmal komisch. Doch dieses Phänomen hat einen Namen: Speisekartenangst.

Sie begegnet einem immer wieder, je tiefer man in die sozialen Medien eintaucht. Junge Menschen berichten auf TikTok und Instagram darüber, dass sie Probleme damit haben, im Restaurant Essen zu bestellen. Die Speisekartenangst betrifft in erster Linie Menschen der Generation Z – eine Generation, die mit so vielen Vorurteilen konfrontiert ist wie keine vor ihr. Sie hat viele Spitznamen: zum Beispiel Generation Schneeflocke, weil junge Menschen angeblich beim leisesten Anflug von Kritik wie Schneeflocken zerschmelzen. Oder Generation Krankenschein, weil sie beim kleinsten Schnupfen der Arbeit fernbleiben würden. Kann diese Gen Z jetzt nicht einmal mehr ein Restaurant besuchen, ohne dass es Probleme gibt? Kriegen die jungen Leute gar nichts mehr auf die Reihe?

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Der Begriff Speisekartenangst ist umstritten. Und doch bündelt er viele Dinge, die diese Generation verlernt oder nie gelernt hat. Er zeigt auf, wo Probleme bestehen und warum die Digitalisierung ihre Tücken hat. Doch wie lässt sich diese Furcht überhaupt definieren?

Gen Z hat Speisekartenangst: Lieber vorher das Gericht aussuchen

„Bei der Speisekartenangst handelt es sich in erster Linie um eine Unsicherheit in der Interaktion mit einer Bedienung“, erklärt Zukunftsforscher Hartwin Maas vom Institut für Generationenforschung. Der Wirtschaftsingenieur und Experte für Digitalisierung untersucht, wie Generationen ticken. Junge Menschen wählen demnach typischerweise Restaurants aus, bei denen sie sich vorher online die Speisekarte anschauen und ein Gericht auswählen können. Dann können sie in Ruhe entscheiden, ob sie zum (veganen) Schnitzel lieber Pommes oder Bratkartoffeln nehmen.

Zukunftsforscher Hartwin Maas vom Institut für Generationenforschung ist Experte für die Generation Z.
Zukunftsforscher Hartwin Maas vom Institut für Generationenforschung ist Experte für die Generation Z. © Institut für Generationenforschung | Institut für Generationenforschung

Die Devise: Bloß nicht zu lange mit dem Kellner diskutieren. Es sei eine Erleichterung, sich vorher ein Bild über das Speisenangebot zu machen, so Maas. „Denn eine Bedienung wieder wegzuschicken, weil man mit der Bestellung im Restaurant noch nicht so weit ist, ist zu unangenehm. Diese Vorgehensweise wird jedoch spätestens dann zum großen Problem, wenn das Gericht, das man sich vorher ausgesucht hat, aus ist.“

Vielen wird das Problem bekannt vorkommen. Die Speisekarte ist das Telefon der 20er Jahre: Sie ist das Pendant zur Angst vor dem Telefonieren oder der Angst, jemanden nach dem Weg zu fragen. „Alles sind einzelne Phänomene einer generellen diffusen Angst, sich mit alltäglichen Dingen im direkten persönlichen Kontakt auseinander zu setzen“, sagt Thomas Dürst. Der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut erlebt in seiner Praxis, dass junge Menschen wichtige Anrufe scheuen, um zum Beispiel eine Psychotherapie bewilligen zu lassen. Sie neigen dazu, knifflige Situationen zu vermeiden.

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„Einem Kellner kann ich keinen „Daumen hoch“ schicken“

Dabei trifft die Generation Z eigentlich gar keine Schuld. Viele der Vorurteile und generationsbedingten Probleme kommen nicht von der Generation Z selbst, sondern von den älteren Generationen. Die Älteren verstehen die Jüngeren schlichtweg nicht mehr und stellen sie in eine bestimmte Ecke. „Sie reden aneinander vorbei“, so Zukunftsforscher Maas.

Die Generation Z ist die erste Generation, die mit einem Smartphone aufgewachsen ist. Menschen dieser Generation wurden zwischen 1995 und 2010 geboren, sind heute also zwischen 14 und 29 Jahre alt. Vereinzelt gebe es in jeder Generation Leute, die Unsicherheiten beim Telefonieren haben, so Maas. „Aber in der Generation Z tritt das vermehrt auf, weil ihnen das Training fehlt.“ Dem Zukunftsforscher zufolge mache sie letztlich nur das, was die älteren Generationen ihr zur Verfügung gestellt hat: WhatsApp, Sprachnachrichten, Kommunizieren über diverse Kanäle. „Das hat nicht die Generation Z erfunden, sie nutzt es nur.“ Für viele junge Menschen sei es mittlerweile umständlich, ein Telefon in die Hand zu nehmen. „Denn man weiß nicht, wie der Mensch am Ende der Leitung reagiert“, so Maas.

So ist es auch bei der Speisekartenangst. „Im digitalen Raum habe ich die Kontrolle, ich kann einfach eine App schließen oder den Zoom-Call beenden. Einen Kellner muss ich dagegen möglicherweise wegschicken, oder ihm persönlich sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Psychotherapeut Dürst. Hinzu kommt, dass die digitale Kommunikation heutzutage nicht nur über Text- und Sprachnachrichten, sondern vor allem über Emojis stattfindet. „Einem Kellner kann ich aber keinen ‚Daumen hoch‘ oder keinen Smiley schicken“, so Dürst. Im realen Raum habe man das nicht. „Die Fähigkeit, Sachen real auszuhalten, verschwindet langsam durch die Willkürlichkeit der Kommunikation im digitalen Raum.“

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Bestellen übers Tablet – mit möglichst wenig Interaktion

Die Digitalisierung hat großen Anteil daran, dass aus der Angst vor dem Telefonhörer die Speisekartenangst erwachsen ist. Immer mehr Gaststätten reagieren darauf. Auch das Restaurant „Aroma des Ostens“. Das Lokal am Potsdamer Platz in Berlin tischt asiatische Spezialitäten wie Sushi auf, Kunden bestellen das „All you can eat“-Angebot seit anderthalb Jahren über Tablets vom Tisch aus. Die Bedienung erklärt zu Beginn lediglich, wie das Gerät funktioniert. Dann wird alles über das Tablet bestellt und in den digitalen Warenkorb gelegt: jedes Getränk, jedes Maki-Röllchen, jeder Klecks Wasabi. Die Servicekraft bringt das Essen an den Tisch. Das ist nahezu die einzige Interaktion – wenn man es überhaupt Interaktion nennen kann.

Im Berliner Restaurant „Aroma des Ostens“ können Gäste die Bestellung per Tablet aufgeben.
Im Berliner Restaurant „Aroma des Ostens“ können Gäste die Bestellung per Tablet aufgeben. © Patricia von Thien | Patricia von Thien

„Die jungen Leute haben das auf TikTok und Instagram gesehen. Sie finden es cool“, erzählt Nhat Minh Nguyen, die im Service des Restaurants arbeitet. „Sie haben keinen Druck mit der normalen Speisekarte und denken: ‚Gleich kommt schon der Kellner‘.“ Per Klick wird die Bedienung gerufen, um zu bezahlen. Der digitale Bestellvorgang werde von Touristen und Jugendlichen gut angenommen. Sie selbst habe im Alltag zwar noch keinen Gast erlebt, der sichtbare Angst vor dem Bestellen gehabt habe, so Nguyen. Vor allem für introvertierte Menschen sei das Bestellen über das Tablet jedoch eine Erleichterung. „Das System ist so aufgebaut, dass jeder einzelne Mensch, egal, wie sein Charakter ist, einfachen Zugriff hat. Niemand soll Probleme beim Bestellen haben.“

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Doch warum erleben vor allem jüngere Menschen Speisekartenangst? Glaubt man dem Zukunftsforscher, macht die Erziehung einen großen Anteil aus. „Junge Menschen der Generation Z haben es weniger gelernt, schwierige Situationen zu bewältigen. Sie haben es durch die Eltern nicht vermittelt bekommen, die ebenfalls zunehmend zu Unsicherheiten neigen“, sagt Hartwin Maas. Dadurch haben junge Leute weniger Copingstrategien zur Verfügung, also Möglichkeiten, um Probleme oder Konflikte zu lösen.

Welche Rolle die Pubertät spielt

Ein Großteil der Generation Z steckt mitten in der Pubertät. Eine Phase, in der sich Jugendliche von ihrer besten Seite präsentieren und jegliche Unsicherheit vermeiden wollen. „Dabei ist genau das eine wichtige Phase, um diese Unsicherheiten und Ängste zu überwinden“, erklärt Maas. In der Folge nehme die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit, bei der Generation Z ab. „Es zeigt sich auch eine Abnahme von Transfer, also im Fall des Restaurantbesuchs einfach mal zu fragen, was die anderen essen und sich dann zu entscheiden.“

Bei der Generation Z kommt ein weiterer entscheidender Faktor hinzu, der die Speisekartenangst begünstigt: Covid-19. Als die Pandemie 2020 in Deutschland ausgebrochen ist, waren junge Menschen dieser Generation zwischen zehn und 25 Jahre alt. Selbstisolation, Homeschooling, Abstand halten: Sie wurden in einer Welt groß, die von heute auf morgen auf den Kopf gestellt war.

Homeschooling während des Corona-Lockdowns: Viele Jugendliche haben während der Pandemie verlernt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.
Homeschooling während des Corona-Lockdowns: Viele Jugendliche haben während der Pandemie verlernt, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. © iStock | FOTOGRAFIA INC.

„Die Pandemie hat alles beschleunigt: Es gab viel weniger analoge Interaktionen und somit ein beschränktes analoges Training, weil alles online oder über Apps geregelt wurde“, sagt Hartwin Maas. Junge Menschen wurden zu Weltmeistern in Teams-Meetings. Und blieben Novizen im Smalltalk an der Supermarktkasse.

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„Corona war ein Brandbeschleuniger“

Viele Restaurants stellten während Covid-19 ihre Speisekarten online, entwickelten Apps oder ließen ihre Kunden, so wie im „Aroma des Ostens“, digital bestellen. „Corona war in dieser Hinsicht ein Brandbeschleuniger“, so der Zukunftsforscher. Hinzu kommen bei der Speisekartenangst die stark gestiegenen Preise und die Inflation, außerdem der Anstieg der Mehrwertsteuer im Gastgewerbe. Auch fehlende Entscheidungsfreude und Überforderung bei der Entscheidung für ein Gericht können eine Rolle bei der Furcht vor der Bestellung spielen, besser bekannt als die „fear of better options“.

Faul, unzuverlässig, führungsschwach – das sind nur einige der Vorurteile, die über die Generation Z kursieren. Kann sie sich jetzt noch nicht einmal ein Gericht von der Karte aussuchen? Auch wenn es besonders für ältere Generationen kaum nachvollziehbar ist: Die Speisekartenangst gibt es wirklich. Es handelt sich um ein Phänomen, das Menschen subjektiv erleben. Problematisch werde es, wenn ein Begriff geformt wird, der wie eine Diagnose im Raum steht. „Bei den Jugendlichen ist es so: Wenn ich ständig überall irgendetwas über die Generation Z höre, dann nehme ich das irgendwann auch an“, so Zukunftsforscher Maas. „Wenn man ihnen sagt: Eure Generation hat jetzt diese Angst, dann gehen sie irgendwann auch davon aus, betroffen zu sein.“