Berlin. Gibt es den idealen Zeitpunkt für Nachwuchs? Eine Expertin über den Einfluss von Körperuhr, Beziehungsreife und Bauchgefühl.

Mit Kindern fängt das Leben wieder von vorne an. Alles steht Kopf, wenn aus einem Zweierteam plötzlich ein Dreierteam wird. Ein Kind hinterfragt alles, was in der Welt passiert, spiegelt das eigene Verhalten, Uhrzeiten und Abläufe bedeuten ihm noch nichts. Es ist neugierig, offen, braucht Aufmerksamkeit und Liebe. Ab wann Paare wissen, ob sie für die größte und schönste Herausforderung ihres Lebens bereit sind, verrät eine Paartherapeutin und ein Psychotherapeut.

Kinder bekommen: Was sagt die Statistik?

Im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten fällt auf, dass Frauen in Europa ihr erstes Kind immer später bekommen – laut Statistischem Bundesamt sind sie in sieben von insgesamt 27 EU-Ländern im Durchschnitt über 30 Jahre alt. So sind Frauen in Italien im Jahr 2022 bei der Geburt ihres ersten Kindes durchschnittlich 31,7 Jahre alt. In Deutschland lag das durchschnittliche Alter von Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes bei 29,9 Jahren – 2021 waren es 30,1 Jahre.

Das bedeutet, eine Vielzahl an Müttern sind bei der Geburt ihres Kindes Mitte dreißig: Eine späte Schwangerschaft nach dem 35. Lebensjahr gilt laut Bundesgesundheitsamt als Risikoschwangerschaft. Hintergrund: Mit zunehmendem Alter steigen bestimmte Risikofaktoren für Mutter und Kind, etwa für Schwangerschaftsdiabetes oder Thrombosen. Auch die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt, zu bekommen, nehme zu, so das Bundesgesundheitsamt. Ebenso nehme die Qualität und Anzahl der Eizellen, die ohnehin individuell unterschiedlich sei, mit zunehmendem Alter ab.

Auch Paartherapeutin Hannah Hebenstreit aus Berlin rät Paaren, ihren Kinderwunsch zwischen Mitte 20 und Mitte 30 zu realisieren. „Die biologische Uhr der Frau tickt deutlich lauter als die des Mannes“, argumentiert auch Hebenstreit. „Ab Mitte 30 nimmt die Fruchtbarkeit der Frau kontinuierlich ab und das Risiko für Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt steigt.“

Dabei ist es nicht so, dass der Zeitpunkt für das erste Kind bei Männern keine Rolle spielt. „Auch Männer haben eine biologische Uhr, die etwa ab 35 bis 40 Jahren zu ticken beginnt“, erklärt die Paartherapeutin. Mit zunehmendem Alter nehme die Spermienqualität ab und damit auch die Beweglichkeit. Ebenso die Form der Spermien verändere sich. „Das Risiko für Gendefekte und Erbkrankheiten bei den Nachkommen steigt“, so Hebenstreit.

Hannah Hebenstreit ist ausgebildete systemische Paartherapeutin mit eigener Praxis in Berlin.
Hannah Hebenstreit ist ausgebildete systemische Paartherapeutin mit eigener Praxis in Berlin. © Hannah Hebenstreit | Hannah Hebenstreit

Wie lange sollte ein Paar zusammen sein, bevor es sich Kinder wünscht?

Neben dem Alter an sich stellt sich für viele Paare auch grundsätzlich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für Nachwuchs. Eine mögliche Antwort darauf gibt eine repräsentative Studie der University of Denver, die den Zusammenhang zwischen Ehen und Kindern untersucht hat. Ihr Ergebnis: Paare, die einige Zeit nach der Heirat Kinder bekommen, bewältigen den Übergang zur Elternschaft besser als Paare, die bereits relativ kurz nach der Heirat Kinder bekommen. Dies könnte daran liegen, so die Autoren der Studie, dass diese Paare mehr Zeit haben, ein gemeinsames Verständnis von Verantwortung in der Beziehung zu entwickeln.

Der auf Paar- und Familientherapie spezialisierte Psychotherapeut Christoph Uhl aus Berlin sieht das ähnlich: Für ihn gibt es zwar keinen allgemein gültigen Zeitpunkt für den Kinderwunsch, aus seiner Praxis weiß Uhl aber, dass die meisten Paare frühestens nach ein bis zwei Jahren Partnerschaft eine Familie gründen oder zumindest ernsthaft darüber nachdenken. „Diese Zeit wird in der Regel benötigt, um nach der frischen Verliebtheit eine stabile und erfüllende Beziehung aufzubauen, das Zusammenleben zu festigen und vielleicht auch erste Hürden in der Partnerschaft zu meistern“, so der Psychotherapeut.

Christoph Uhl ist Psychotherapeut für Paar- und Familientherapie in Berlin.
Christoph Uhl ist Psychotherapeut für Paar- und Familientherapie in Berlin. © Christoph Uhl | Christoph Uhl

Kinderwunsch: Auf Verstand oder das Bauchgefühl hören?

Am Ende sei es wichtig bei der Entscheidung für ein Kind sowohl auf den Bauch als auch auf den Kopf zu hören, meint Paartherapeutin Hebenstreit. Der Bauch könne „ein gutes Gefühl“ geben, ob ein Paar emotional bereit sei für die Verantwortung und die Veränderungen im Leben, die ein Kind mit sich bringe. Auch der Psychotherapeut Christoph Uhl ist überzeugt: „Ohne den gemeinsamen, tiefen Wunsch, ein Kind zu bekommen, ist es kaum möglich, sich ganz darauf einzulassen.“

Frauen in Deutschland bekommen ihr erstes Kind mittlerweile im Schnitt meist erst rund um das dreißigste Lebensjahr. Dadurch sinkt der Anteil sehr junger Mütter.
Frauen in Deutschland bekommen ihr erstes Kind mittlerweile im Schnitt meist erst rund um das dreißigste Lebensjahr. Dadurch sinkt der Anteil sehr junger Mütter. © Getty Images/iStockphoto | Shironosov

Dennoch sollten laut Uhl aber auch rationale Überlegungen ihren Platz haben, damit das Paar seinen Kinderwunsch gut vorbereitet realisieren kann. Der Psychotherapeut ist der Meinung, dass neben dem eigentlichen Kinderwunsch auch Faktoren wie die berufliche und finanzielle Situation des Paares eine Rolle spielen sollten. Hebenstreit bestätigt: „Ein Kind bedeutet eine enorme finanzielle, zeitliche und emotionale Belastung. Man muss realistisch einschätzen, ob man der Verantwortung gewachsen ist und ob die Voraussetzungen stimmen.“

Im Idealfall, so die beiden Experten, stimmen also Bauchgefühl und Verstand überein. Kommen Bauchgefühl und Verstand zu unterschiedlichen Ergebnissen, sei das ein Zeichen von Unsicherheit, erklärt Hebenstreit. In diesem Fall rät die Paartherapeutin den Paaren, sich mehr Zeit für die Entscheidung zu nehmen und offen über Ängste und Sorgen zu sprechen. 

Daran können Paare erkennen, ob sie bereit für ein Baby sind

Die Experten haben drei Fragen zusammengestellt, die Paaren helfen sollen, ihre Bereitschaft für ein Kind besser einzuschätzen: 

1. Wie stabil und vertrauensvoll ist unser Beziehung?

Sind Sie zufrieden mit Ihrer Beziehung? „Eine stabile Partnerschaft ist die Basis für eine glückliche Familie“, sagt Paartherapeutin Hebenstreit. Die Liebe, die Kinder vor allem von ihren Eltern, aber auch von Verwandten und vielleicht sogar Bekannten erfahren, präge von Anfang an ihr Urvertrauen und Selbstbewusstsein für den weiteren Lebensweg. Bleibt diese Zuwendung aufgrund von Beziehungsproblemen längerfristig auf der Strecke, kann dies emotionale Folgen für das Kind haben.

Hebenstreit rät werdenden Eltern, sich ein realistisches Bild von der eigenen Situation zu machen. Wie fühlt man sich in der Partnerschaft? Gibt es Konflikte und wenn ja, wie oft und welcher Art? Paare sollten auch ihre Lösungsstrategien hinterfragen. „Eine offene Kommunikation und die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu lösen, sind unerlässlich, denn ein Kind stellt die Beziehung auf eine harte Probe“, so die Expertin.

2. Wie steht es um das Zeitmanagement beider Paare?

Vollzeitjob, Termine, Freunde, Sport – im Alltag alles unter einen Hut zu bekommen, erfordert oft viel Planung und Organisation. Wird dabei die Koordination der täglichen Aufgaben vernachlässigt, kommt es nicht selten zu einer Unausgeglichenheit des Lebensgefühls.

Hebenstreit rät Paaren daher, sich zu fragen, ob ihr Leben schon vor dem Kind vollgepackt war. Wenn Zeit eher ein knappes Gut sei, müsse man sich fragen, ob es für ein Kind überhaupt noch Platz gebe. „Elternschaft erfordert eine enorme Opferbereitschaft und den Willen, das eigene Leben komplett umzukrempeln. Bedürfnisse müssen oft zurückgestellt werden, um die Elternrolle in den Mittelpunkt zu stellen“, erklärt die Expertin. Vor der Schwangerschaft zu besprechen, wie beide Partner ihre wichtigsten Bedürfnisse unter einen Hut bringen können und worauf jeder mit einem guten Gefühl verzichten kann, schafft laut Psychotherapeut Uhl Klarheit.

Neben der Frage nach der eigenen zeitlichen und mentalen Verfügbarkeit könne auch die Frage nach einem unterstützenden Netzwerk wichtig sein. „Freunde und Verwandte, die ab und zu einspringen, können eine große Entlastung für frischgebackene Eltern sein. Ein soziales Netzwerk bietet Unterstützung und Austausch“, so Hebenstreit.

3. Wie sieht die finanzielle Situation aus?

Auch wenn Eltern gerne Geld für ihren Nachwuchs ausgeben: Der Finanzbedarf eines Kindes ist hoch und lag bei der letzten Erhebung 2018 laut Statistischem Bundesamt bei durchschnittlich 763 Euro im Monat. Angefangen bei Windeln über Babynahrung bis hin zu Kindergartenbeiträgen und Klassenfahrten – „die Kosten für Kinder sind beträchtlich“, sagt Paartherapeutin Hebenstreit.

Und genau daran zerbrechen viele Partnerschaften, wie eine repräsentative Umfrage von Forschern der Dartmouth University zeigt, die über zehn Jahre hinweg eine Million Eltern zu ihrer Lebenszufriedenheit befragt haben. Demnach sind viele Menschen nach der Geburt unglücklicher als vorher. Das hat laut den Forschenden meist finanzielle Gründe. Paare sollten daher realistisch einschätzen, ob ihr Einkommen ausreicht, um den Lebensstandard für ein Kind zu sichern und Rücklagen zu bilden, so Hebenstreit.

Hilfreiche Fragen für Paare könnten sein: Wie groß ist das Haushaltsbudget mit Kind? Auf was könnten wir verzichten? Welche Unterstützung könnten wir in Anspruch nehmen? Welche Vorstellungen haben wir in Bezug auf den Beruf oder die Rollenverteilung in der Partnerschaft mit Kind? Antworten auf diese Fragen können Paaren helfen, ihre Bereitschaft für ein Kind besser einzuschätzen und mögliche Schwachstellen zu erkennen, an denen noch gearbeitet werden muss.

Einseitiger Kinderwunsch: Was tun, wenn nur ein Partner Kinder haben möchte?

Wenn sich in einer Beziehung am Ende ein Partner Kinder wünscht, der andere aber nicht, ist die Situation schwierig. Schließlich könne man nicht beide Wünsche erfüllen, sondern nur einen, sagt Uhl. Entscheidend sei in diesem Fall, dass das Paar offen und ehrlich über seine Wünsche und Ängste spreche und die Motive des anderen verstehe. „Bei Paaren, die sich kein Kind wünschen, gibt es oft zwei Gründe: Entweder, weil sie sich auf ihre aktuelle Lebensphase konzentrieren, vor allem auf die berufliche Etablierung. Oder sie sind sich noch nicht sicher genug, ob ihre Beziehung wirklich das ist, was sie sich auf Dauer als Partnerschaft vorstellen“, erklärt Uhl. Zudem halte die Angst, der Elternrolle nicht gewachsen zu sein, oder die Befürchtung, dass sich die Partnerschaft durch das Kind verschlechtern könnte, viele Partner von einer Familiengründung ab.

Gebe es Unstimmigkeiten beim Kinderwunsch, sollten die Partner vor allem ehrlich zu sich selbst sein, betont Paartherapeutin Hebenstreit. Sie rät sich folgende Fragen zu stellen: Handelt es sich um eine Momentaufnahme und kann man hoffen, dass es sich der andere noch einmal überlegt? Oder ist man an einem Punkt, an dem man sich entscheiden muss? Ist die Liebe so groß, dass man auf den Kinderwunsch verzichtet, oder ist der eigene Nachwuchs wichtiger als der Mensch, den man liebt? „So schwer es auch fällt: Manchmal ist es besser, sich zu trennen, wenn die Vorstellungen über die Familienplanung zu unterschiedlich sind. Man kann und sollte den Partner oder die Partnerin nie zum Kinderkriegen zwingen“, fasst die Paartherapeutin zusammen.