Berlin. Der jüngste Angriff zeigt: Israel fehlt die Balance zwischen dem zielgerichteten Kampf gegen die Hamas und dem Schutz der Zivilisten.

Ein brennendes Flüchtlingslager, mindestens 45 Tote, viele Schwerverletzte: Der israelische Luftschlag auf ein Flüchtlingslager in Rafah zeigt wieder einmal, dass der Gaza-Krieg völlig außer Kontrolle geraten ist. Israels Militär spricht von einem Angriff mit „Präzisionsmunition“, bei dem mehrere Führer der islamistischen Hamas getötet worden seien.

Diese Argumentation hat eine moralische Schlagseite. Wie viele zivile Opfer rechtfertigt die Tötung eines Hamas-Terroristen? 5, 10, 100, 1000? Eine derart zynische Aufrechnung, in der politische Zwecke gegen Menschenleben aufgewogen werden, ist Israel unwürdig. Das Land ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Es muss sich schmerzhafte Fragen über Menschenrechte und humanitäre Standards gefallen lassen – auch im Krieg gegen den Terror.

Gaza-Krieg: Die internationale Isolation Israels wird weiter zunehmen

Entsprechend groß ist die internationale Kritik nach dem Luftangriff. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gab sich „empört“. Die arabischen Staaten sahen einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Bundesregierung sprach immerhin von einem „Fehler“.

Klar ist bereits heute: Die internationale Isolation Israels wird weiter zunehmen. Die weniger werdenden Länder wie Deutschland, die offen Solidarität mit Israel üben, kommen zunehmend in eine ethische Bredouille. Israels Kampf gegen den Terror führt angesichts von mehr als 35.000 Todesopfern und dem unsäglichen Leid der Palästinenser zu der Frage: Sind die humanitären Kosten nicht bereits jetzt zu hoch?

Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik.
Michael Backfisch ist freier Autor für internationale Politik. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nahost-Krieg: Welchen Preis zahlt Israel?

Damit wird die Verantwortung der Hamas keinesfalls ausgeblendet: Die Gruppe ist eine terroristische Mörderbande, die das Elend im Gazastreifen heute beenden und alle Geiseln freilassen könnte. Dass Israel die Todesschwadronen nach dem Massaker vom 7. Oktober ausschalten will, ist verständlich. Aber wie und zu welchem Preis?

Die israelische Armee legt den Gazastreifen seit Monaten in Schutt und Asche. Es fehlt die Balance zwischen dem zielgerichteten Kampf gegen die Islamisten und dem Schutz der Zivilbevölkerung. Premierminister Benjamin Netanjahu hat sein Land in ein Kriegs-Fiasko geführt. US-Militärs haben Israel eine andere Linie empfohlen: Statt Wohngebiete mit Luftschlägen und Panzerangriffen zu überziehen, wäre es erfolgversprechender, die Führer und Kämpfer der Hamas mit Spezialkommandos zu stellen. 

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl

Netanjahu gehen die Optionen aus

Die Kaskade des blindwütigen Krieges lässt Netanjahu nur zwei Alternativen übrig: eine Dauerbesetzung des Küstenstreifens, was Israel überfordern würde. Oder ein Rückzug, was den Landstrich zu einer Art bandenregiertem Somalia machen würde, in dem sich die Hamas sehr wahrscheinlich neu sortieren könnte. Der einzig sinnvolle Weg für eine Befriedung des Gazastreifens und des Westjordanlands wäre eine „Road-Map“ zu einem unabhängigen Palästinenserstaat.

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Mit dieser Perspektive könnte Israel arabische Länder wie Ägypten, Jordanien und selbst Saudi-Arabien dafür gewinnen, sich an einer Übergangsregierung in Palästina ohne die Hamas zu beteiligen. Strategischer Nebeneffekt: Die Position des Hamas-Unterstützers Iran wäre geschwächt. Israel müsste Partnerschaften eingehen und Bündnisse schmieden.

Netanjahu hat leider einen anderen Weg gewählt. Er ist Geisel seiner rechtsextremen Koalitionspartner, die den Gazastreifen und das Westjordanland mit jüdischen Siedlungen überziehen wollen. Verliert er sein Amt, droht ihm ein Prozess wegen Untreue, Betrug und Bestechlichkeit. Trotz aller äußeren Widerstände und trotz des größer werdenden innenpolitischen Drucks: Der Premier flüchtet sich in eine Wagenburg-Mentalität. Der Krieg ist für ihn auch eine politische Lebensversicherung.