Berlin. Gesundheitsminister Lauterbach warnt vor einem „explosionsartigen“ Anstieg der Pflegebedürftigen. Doch eine Reform ist nicht in Sicht.

Zu wenig Pflegekräfte, immer mehr Bedürftige: Die Zukunft der Pflege ist eine der großen Herausforderungen der Bundesregierung. Nun warnt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor einem explosionsartigen Anstieg der Pflegefälle, Verbände sprechen gleichzeitig von einem dramatischen Fachkräftemangel. Steht die Pflege vor dem Kollaps? Darum geht es.

Wie entwickelt sich die Zahl der Pflegebedürftigen?

Die Zahl der Menschen, die Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhalten, liegt bei 5,2 Millionen. Allein im Jahr 2023 seien 360.000 Pflegebedürftige hinzugekommen, heißt es nun aus dem Gesundheitsministerium. Ein Anstieg um elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr – darauf wies schon vor einem Monat Gernot Kiefer, Vize-Vorsitzender des Spitzenverbandes der Krankenkassen (GKV), unsere Redaktion hin. Nun schlägt auch Gesundheitsminister Lauterbach Alarm und spricht gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ von einem „explosionsartigen Anstieg“. Sein Ministerium kommt zusammen mit den privat versicherten Pflegebedürftigen auf 5,6 Millionen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind.    

Was sind die Ursachen für den Anstieg?

Lauterbach geht von einem sogenannten Sandwich-Effekt aus: „Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden“, sagte er. Damit gebe es erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen seien. GKV-Vize Gernot Kiefer schließt auch einen Nachholeffekt nach der Corona-Pandemie nicht aus. Damals seien weniger Menschen vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen begutachtet worden.

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Was bedeutet das für die Beitragszahler?

Sie müssen sich schon im kommenden Jahr auf eine Erhöhung der Beiträge einstellen – dabei hat erst im vergangenen Jahr der Bundestag einen Beitragsanstieg auf vier Prozent für kinderlose Beitragszahler geeinigt. Bei einem Kind werden 3,4 Prozent fällig, bei weiteren Kindern ist der Beitrag entsprechend. Trotzdem gehen der Verband der Ersatzkassen NRW (VdEK) sowie die DAK davon aus, dass die Finanzmittel im ersten Quartal noch nicht einmal eine Monatsausgabe decken. „Die Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit des Gesamtsystems macht nach aktueller Datenlage eine Beitragssatzanhebung voraussichtlich schon zu Beginn des Jahres 2025 erforderlich“, erklärte der VdEK. DAK-Vorstandschef Andreas Storm spricht von „zwei Beitragszehntel“, die dann zusätzlich gezahlt werden müssten. Außerdem ist die Rede von einer Erhöhung der Sozialbeiträge von einem halben Prozentpunkt.

Reichen höhere Beiträge, um die Pflegeversicherung zukunftsfähig zu machen?

Der Sozialverband Deutschland (VdK) fordert einen Umbau. Um die Pflege zukunftssicher zu machen, müsse endlich eine einheitliche Pflegeversicherung geschaffen werden, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele unserer Redaktion. „Alle Bürgerinnen und Bürger, also auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige, sollten in einen Topf einzahlen.“ Schon heute seien die Leistungen der gesetzlichen und der privaten Pflegeversicherung identisch. Daher ergebe es auch keinen Sinn, dass es die Trennung noch gibt. Bentele: „Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss daher solidarisch finanziert werden.“ Auch der Deutsche Pflegerat setzt auf die Gesellschaft. Wenn man nicht betroffen ist, habe die Pflege eigentlich keinen Stellenwert, sagte Verbandspräsidentin Christine Vogler unserer Redaktion. Doch die Probleme einer alternden Gesellschaft seien nur zu bewältigen, wenn die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gestärkt werde – „etwa mit einem Schulfach Gesundheit und Pflege“. Vogler wirbt nicht nur für ehrenamtliches Engagement, sondern auch für Wachsamkeit. „Dazu gehört auch, mal bei der Nachbarin nachzufragen, ob alles in Ordnung ist“. 

Der Deutsche Pflegerat rechnet bis 2034 mit 500.000 fehlenden Fachkräften. Was schlagen Experten vor?

Für den Caritas-Verband kommt es bei der Pflege auf die Angehörigen an. Angesichts der drastisch gestiegenen Zahl an pflegebedürftigen Menschen in Deutschland sei es dringend geboten, eine soziale Infrastruktur zu schaffen, „die tags und nachts die Angehörigen entlastet“, sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa unserer Redaktion. Alle Studien zeigten: „Wir werden auf diese Ressource in den nächsten Jahren noch intensiver angewiesen sein.“ Dafür brauche es endlich einen gesetzlichen Rahmen – und politische Power. Der Pflegerat unterstützt die Caritas-Forderung und setzt obendrein auf eine Aufwertung der Pflegeberufe. Es könne doch nicht sein, dass Pflegekräfte sehen, was Patienten brauchen – ob Wundmaterial oder Mobilitätshilfen und anderes aus dem pflegerischen Kontext – „aber der Patient muss zum Arzt, um sich all dies auch verschreiben zu lassen“, sagte Christine Vogler. Immerhin scheint es in der Politik Bewegung zu geben. So hat das Lauterbach-Ministerium einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem das Pflegestudium attraktiver und der Praxisteil besser vergütet werden soll. Die Pflegerats-Präsidentin fordert obendrein 10.000 neue Plätze an den Universitäten.

Ist mit einer umfassenden Pflegereform in absehbarer Zeit zu rechnen?

Gesundheitsminister Lauterbach erklärte, in der laufenden Legislaturperiode sei eine umfassende Finanzreform kaum noch zu schaffen. Der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) kritisierte dies scharf. Angesichts der steigenden Zahlen an Pflegebedürftigen müsse eine Finanzreform der Pflegeversicherung ganz oben auf der Tagesordnung stehen. „Ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode wird das unbedingt Notwendige als nicht mehr machbar benannt – das ist mehr als irritierend“, sage der GKV-Vize-Vorsitzende Gernot Kiefer. „Das Eingeständnis des Ministers, dass die politische Kraft in der verbleibenden Zeit dafür nicht ausreicht, sollte Anlass genug sein, einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu initiieren, wie die Pflege zukunftsfest gemacht werden kann.“ Kiefer rechnet damit, noch in diesem Monat verschiedene Beitragsszenarien vorstellen zu können.