Berlin. Laufen Kinder weg, werden sie meist recht schnell gefunden. Anders im Fall Arian. Ein Experte erklärt, warum Autismus Kinder gefährdet.

Die Suche nach dem sechs Jahre alten Arian war auch wegen dessen Autismus-Spektrum-Störung eine besondere Herausforderung.
Die Suche nach dem sechs Jahre alten Arian war auch wegen dessen Autismus-Spektrum-Störung eine besondere Herausforderung. © DPA Images | Markus Hibbeler

Arian, ein Junge aus Elm bei Bremervörde, wird seit dem 22. April 2024 vermisst. Ein Großaufgebot an Rettungskräften versuchte, den Sechsjährigen zu finden. Ohne Erfolg. Besonders herausfordernd bei den Suchaktionen: Arian, soviel ist bekannt, hatte eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) – landläufig schlicht Autismus genannt. Auch das ließ die Hoffnung, das Kind noch lebend zu finden, zuletzt schwinden. Nun entdeckte ein Landwirt in der Region eine Kinderleiche, bei der es sich um das Kind handeln könnte.

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Tomasz Antoni Jarczok ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Klinik Josefinum in Augsburg, das sich unter anderem auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus spezialisiert hat. Im Gespräch erklärt er unter anderem, wie Autismus das Weglaufen von Kindern begünstigt.

Was bedeutet Arians Autismus-Spektrum-Störung (ASS) mit Blick auf sein Verhalten?

Tomasz Jarczok: Grundsätzlich sind Menschen mit ASS eine sehr heterogene Personengruppe. Das heißt, es gibt jetzt nicht sozusagen den einen Autismus. Kinder mit dieser Diagnose unterscheiden sich also sehr stark untereinander, gerade in ihren Verhaltensweisen. Das Risiko, dass sie verloren gehen oder weglaufen, ist bei ihnen aber definitiv erhöht.

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Weglaufen und Verlorengehen bei Kindern mit Autismus wahrscheinlicher

Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2019 geht davon aus, dass pro Jahr mehr als ein Viertel der Kinder im Schulalter mit ASS oder einer anderen Entwicklungsstörung verloren gehen.

Jarczok: Diese Zahl erscheint mir sehr hoch. Allerdings hängt es natürlich auch davon ab, wie man „verloren gehen“ definiert, ob sie etwa nur für kürzere Zeit aus dem Sichtfeld geraten und die Eltern nach ihnen suchen müssen, sie aber zügig wieder finden. Bei Arian hatte das Weglaufen ja eine ganz andere Dimension. Solche Fälle sind definitiv seltener, aber wahrscheinlicher als bei Kindern ohne Autismus.

Tomasz Jarczok ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und hat sich unter anderem auf Autismus-Spektrum-Störungen spezialisiert.
Tomasz Jarczok ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und hat sich unter anderem auf Autismus-Spektrum-Störungen spezialisiert. © Marie Preaud Photography | Marie Preaud Photography

Warum?

Jarczok: Junge Menschen mit ASS haben eine besondere Wahrnehmung. Ihr Autismus geht oft einher mit einem Festhalten an bestimmten Ideen und dem unbändigen Drang, diese dann auch in die Tat umsetzen zu wollen. Hinzu kommen teils unvorhersehbare, sehr impulsive Reaktionen auf Situationen, die auch Eltern nicht erahnen können. Das kann auch das Weglaufen von zu Hause sein.

Solche Impulshandlungen oder Wutausbrüche können dann im Extremfall durchaus dazu führen, dass ein Kind im Affekt weit wegrennt und verloren geht. Wieder andere wandern auch im Alltag gerne umher und haben den Drang für sich sein zu wollen. Erschwerend hinzu kommt vermutlich, dass autistische Kinder Gefahrensituationen oft schlechter erkennen können als andere Gleichaltrige.

Autismus machte Suche nach Arian besonders schwer

Warum gestaltet sich auch die Suche nach Kindern mit Autismus, so wie auch im Fall Arian, oft schwerer?

Jarczok: Das kann diverse Gründe haben. Im Fall von Arian hängt das beispielsweise auch ein bisschen davon ab, was die eigentliche Motivation für den Jungen war, sich von Elternhaus zu entfernen. Zudem ist offen, ob er am Ende eher verloren gegangen ist oder ob er sich aktiv versteckt hat. Was man aber sagen kann ist, dass Kinder mit Autismus im Vergleich zu Gleichaltrigen weniger Alltagskompetenz haben und schlechter eigenständig zurechtkommen.

Wenn ein Kind verloren geht, schafft es es daher nicht so leicht, sich Hilfe zu suchen oder gar zurückzufinden, obwohl es das vielleicht wollte. Gerade in extremen Stresssituationen können zudem vielleicht nicht alle Fähigkeiten abgerufen werden, die das Kind normalerweise hätte. Gleichzeitig realisieren autistische Kinder aber oft auch gar nicht, dass sie sich überhaupt in einer Notsituation befinden.

Im Landkreis Stade hat ein Landwirt bei Mäharbeiten eine Kinderleiche gefunden. Ermittler gehen davon aus, dass es sich bei dem Toten „wahrscheinlich“ um Arian handelt.
Im Landkreis Stade hat ein Landwirt bei Mäharbeiten eine Kinderleiche gefunden. Ermittler gehen davon aus, dass es sich bei dem Toten „wahrscheinlich“ um Arian handelt. © Polizei | Polizei

Von Arian wissen wir aus Medienberichten, dass er nicht gesprochen hat. Das deutet darauf hin, dass eine Kontaktaufnahme für ihn durchaus schwer gewesen sein dürfte.

Jarczok: Definitiv. Bei einer möglichen Nonverbalität liegt meist auch eine ausgeprägtere Form des Autismus vor. Gerade Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen verhalten sich im Kontakt mit anderen Menschen eher ungewöhnlich oder ziehen rückzügig und können sich so auch mit Blick auf Rettungskräfte nicht adäquat verhalten. Auf der anderen Seite sind sie im Kontakt mit Fremden manchmal sehr vertrauensselig und sind dadurch gleichzeitig gefährdeter für Übergriffe.

Gefahren im Alltag: Autistische Kinder verletzten sich häufiger

Im Falle Arians geht die Polizei bislang nicht von sogenanntem Fremdeinwirken aus, sondern vermutet, dass es beim Weglaufen zu einem Unfall gekommen sein könnte.

Jarczok: Auch das wäre plausibel. Kinder mit Autismus haben eine erhöhte Unfallgefahr. Das ist ein Teil dieser Schwierigkeit, Gefahrensituationen adäquat einzuschätzen und das eigene Verhalten zu steuern. Selbst im Alltag kommt es dadurch bei ihnen häufiger zu Verletzungen. Auch hier gibt es ein statistisch erhöhtes Risiko im Vergleich zu normal entwickelten Kindern.

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Leben Eltern mit autistischen Kindern generell auch mit der ständigen Sorge, ihr Kind könnte verloren gehen.

Jarczok: Auch wenn es ein erhöhtes Risiko gibt, ist das definitiv nicht der Fall. Meist gibt es dafür schon im Vorfeld Anzeichen und bestimmte Muster im Verhalten der Kinder. Dann ist hier natürlich besondere Vorsicht geboten. Bei den meisten Patienten, die wir hier bei uns in der Klinik sehen, passiert sowas aber nicht. Aber auch unabhängig davon ist der Umgang und das Leben mit autistischen Kindern eine große Herausforderung für die Eltern und das Umfeld.